Sonntag, 9. August 2015

Ein Beitrag für Linden Fiction 2050

Das Kulturzentrum Faust veranstaltet aktuell den Kurzgeschichtenwettbewerb Linden Fiction 2050, in dessen Rahmen positive Utopien für den Stadtteil im Jahr 2050 gesucht werden.

In der letzten Woche wurden die ersten Geschichten online gestellt. Darunter auch das Großstadtmärchen Dort wo keine Dunkelheit herrscht, das einige popkulturelle Referenzen enthält; so spielen z.B. U3000 ein Konzert in einer angesagten Bar im Ihme-Zentrum. Einer der ersten Leser schrieb in seiner Rezension: "Wer sich auf einen psychedelischen matrixähnlichen Trip einer nicht allzu fernen Zukunft einlassen möchte, der wird bis zum Ende das Gefühl nicht los, ob es sich um einen Traum oder um eine Liebesgeschichte handelt, die wirklich in der Zukunft stattgefunden hat. Zweifelsohne hat der Autor es geschafft mich auf dieser Reise in die Zukunft Lindens mitzunehmen und mir das gute Gefühl vermittelt, dass bei aller Schnelllebigkeit und technischem Fortschritt der 'analoge' Kontakt immer bestehen bleiben wird."

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Dort wo keine Dunkelheit herrscht

Die Jungs waren schon weg. Haruki, den sie alle Hulki nannten, musste am nächsten Morgen Hanteln stemmen. Sonny, jüngster Spross des Solarmoguls Alessandro Rossi Senior, war eine Flasche Herrenhäuser über seine schnieken Sneakers gekippt, und weil sein alter Herr eben erst sechs Hunnis dafür hatte springen lassen, war Alessandro Junior rasend nach Hause gestampft. Der schöne Pablo, eigentlich hieß er Pavel, checkte bestimmt noch in der Glocke oder Faust die Mädels ab. Und Serhat, den sie Serge riefen und dabei das 'ä' vor dem 'sch' schelmisch in die Länge zogen, hatte einen seiner polnischen Abgänge hingelegt, und sägte gewiss längst selig vor sich hin. Die Jungs machten sich einen Heidenspaß daraus, ihre Herkunft zu vertuschen. Vertuschung durch Vertauschung, das war ihr Volkssport. Selbst auf Klassenarbeiten notierten sie gelegentlich ihre falschen Namen, und feierten sich jedesmal aufs Neue, wenn Frau Clemens statt »Achim« aus Versehen »Ahmed« herausrutschte.

Ahmed und Nori saßen am Ihmeplatz 8, mit dem Rücken zu dem Betonkoloss, der klotzig zum Sternenhimmel ragte, ein mächtiger Thron über dem fahlen Fluss, über den Ahmeds und Noris stumme Blicke schwelgten. So selbstlos dieser Fluss links der Leine, schenkte einst dem Ihme-Zentrum seinen Namen, und hielt ihm in guten wie in schweren Tagen die Treue, eine achtzig Jahre anhaltende Achterbahnfahrt, oder wohl eher Wildwasserbahnfahrt. Achtzig Jahre, da feierten Brautpaare ihre Eichenhochzeit, Ahmed wunderte sich über diese Bezeichnung, erst kürzlich hatte er sie gelesen, während von unten der Bass aus dem Offlíhme waberte und die Bänke vor der Lenz Bar sanft erzittern ließ. Viel cooler waren ohnehin 31 Jahre, fand Ahmed: Lindenhochzeit. Linden Love. Das war mal eine Aussicht. Das Problem nur, dass Nori nicht eingeweiht war in seine Träumereien, nein, eigentlich sogar keinen blassen Schimmer hatte. Es war an der Zeit das zu ändern, seinen Traum mit ihr zu teilen. Alles wurde hell, als der Mond aufging. Ein Firmament so hell, so voller Sterne, dass es gleißend vor sich hindämmerte. Es war eine wundervolle Nacht, eine weiße Nacht, wie sie nicht auszudenken war in Hannover, und allenfalls erleben konnte, wer jung war. Und natürlich offline. So wie Ahmed und Nori.

Tagein, tagaus waren die Jungs hier anzutreffen, an der hippen Uferpromenade des Ihme-Zentrums, auf dem Platz vor der Lenz Bar, in der vor wenigen Stunden U3000 gespielt hatten. Am liebsten »lenzten« die Jungs mit Pilzsuppe und Kürbislimo aus der VoKü, manchmal waren's auch Kürbissuppe und Pilsener; Ahmed und Haruki oft ausgepowert vom Training bei Dr. Lee, gleich nebenan in der Kampfkunst-Akademie. Ach, das Ihme-Zentrum, Ahmed liebte es. Liebte das Squashen mit Sonny in den alten Parkdecks, liebte im Ihme-Bad seine Bahnen zu ziehen, liebte selbst die altbackene Holzvertäfelung in Dr. Lees Studio. Liebte die nächtlichen Schnäppchenjagden in der Kaufhalle, wenn die dynamischen Preisschilder mal ihre seltenen Schwächen offenbarten, nie jedoch bei den Bierpreisen, die zu später Stunde so verlässlich in die Höhe schnellten, dass man die Uhr danach stellen konnte. Liebte das Nachtleben, unten im Offlíhme. Liebte das »Lenzen« und Touris beobachten, wie sie in Scharen zum UrbanArts_Museum oben an der Blumenauer pilgerten. Liebte den Keller (((o)))of Kunst mit den Brillianten Brutalisten, und all die kleinen Ateliers, die irgendwie immerzu im Umbruch waren. Liebte die urbanen Mikrofarmen und Gartenoasen, die verstreut waren in allen Winkeln des Ihme-Zentrums. Und liebte vor allem die Sonnenuntergänge im Aussichtslos.

Ihre meiste Freizeit verbrachten Ahmed und seine Jungs im Ihme-Zentrum. Ihre Stadt, ihr Viertel, ihr Block. Und bald wollte Ahmed hier auch studieren. Die Fakultät für Medien, Information und Design hatte rund um das ehemalige Stadtwerke-Hochhaus ihren Campus. Welcher Studiengang war ihm im Grunde schnuppe. Nur leider war die Warteliste für das Studentenwohnheim so lang, dass sie locker vom Aussichtslos bis runter zur ominösen U-Bahn-Station im tiefsten Keller des Ihme-Zentrums reichte. Die normalen Wohnungen im Ihme-Zentrum waren fast unbezahlbar, seit Linden-Nord in Sachen Hipness übertrumpft worden war. Einzig Sonny wäre ein Apartment dort vergönnt gewesen, aber dem war das Ihme-Zentrum zu »kulturell«, wie er zu sagen pflegte, Sonny wohnte lieber bei Vati in der Jugendstil-Villa am Lindener Berg und verweilte überhaupt lieber an nobleren Orten. Seine Lieblingsboutique war Der Moderne Mann am Lindener Markplatz, auch in den geleckten Shopping-Malls in Hannovers City gab Sonny gerne Papas Geld aus.

Seit vorhin in der Lenz Bar war Ahmed besessen von dieser Melodie. Ob es Nori auch so ging? Dieser U3000-Ohrwurm war niemals vorbei: »Immer nur weiterrennen / Immer die Nacht durchpennen / Immer nur Leute sehen / Immer im Weg rumstehen / Immer noch Lose kaufen / Immer nur rückwärts laufen / Immer im Gewitter stehen / Immer nur die Gitter sehen / Immer Riesenrad fahren / Immer gegen euch an / Immer zu lang gewartet / Immer nochmal gestartet / Immer noch nichts gewonnen / Immer nur ganz verschwommen / In eure Augen sehen / Und immer den Kopf verdrehen.« 


Auch nach Stunden des Techno-Wumms im Offlíhme, der Ohrwurm verdrehte Ahmed wie verrückt den Kopf. Oder war es Nori, die ihn nicht klar denken ließ? Er schaute auf die Plakate, die an der Betonbrüstung gegenüber der Lenz Bar vom vergangenen Konzertabend kündeten: »U3000 sind zurück - Lenz Bar, Freitag 03.06.2050«, stand dort in welliger Glitzerschrift. Irgendein Scherzkeks hatte Ü-Striche über den Bandnamen gekritzelt. Auf dem Plakat war ein graubärtiger Fährmann zu sehen. Schräg unter seinem Steuerrad, was der starke Seemann scheinbar schulterzuckend zur Kenntnis nahm, tummelten sich ein weißer Hai und eine Superkrake. Ahmed glaubte ein altes Kirmesfahrgeschäft erkennen zu können, das wohl noch aus Opas Zeiten stammen musste. Es erinnerte ihn daran, wie er früher mit Opa zum Schützenfest gegangen war. Opa erzählte gerne, dass es in seiner Kindheit noch Lose aus Papier gegeben hatte, und auf den Pflastersteinen vor den Losbuden war alles voll von diesen bunten Schnipseln gewesen. Eine Vorstellung, die Ahmed faszinierte, ihn seit eh und je nostalgisierte. Diese öden E-Lose, die automatisch auf dem Smartphone generiert wurden, und ebenso automatisch das Geld vom QuickPay-Konto einzogen. Ziemlich unromantisch. Hatte man mal einen Losgewinn, konnte der an den sterilen Schaufenstern des Los-Automaten eingelöst werden. Meist jedoch poppte auf seinem Display so ein altmodischer Smiley auf, der eigentlich immer traurig dreinschaute, darunter ernüchternd in Großbuchstaben: NIETE. »Manche Dinge ändern sich nie«, sagte Opa dann. Seit der Rummel gar nicht mehr aufhörte und zu einem ganzjährigen Event geworden war, hatte es für Ahmed ausgerummelt, zumindest im realen Leben. Ahmed und seine Jungs rammten sich ab und zu beim Cyber-Scooter oder erstellten bei 3rD Life ihren ganz eigenen Vergnügungspark, Serge war in solchen Dingen ein richtiger Crack. Ahmed aber war am liebsten offline. Und natürlich Offlíhme. Bei MyFace war er eigentlich nur wegen Nori. Nur war Nori nicht mehr bei MyFace. »Analog ist besser« stand auf einem ihrer Shirts. Nori mochte schon immer Teil einer Jugendbewegung sein.

Ahmed lief die Zeit davon. Er hatte von Pablo erfahren, und der hatte es von Stella, das war die kleine Schwester von Ida, und Ida war die beste Freundin von Nori, dass Nori im nächsten Schuljahr vielleicht mit ihren Eltern nach Schweden ziehen würde. Wegen eines Jobangebots oder so. Pablo meinte schon: »Such dir ne andere, wir reißen zusammen eine für dich auf«. Aber für Ahmed kam das null in Frage. Lieber wollte er auf Nori warten. Ohne dass die beiden jemals Worte gewechselt hatten, Unterrichtsgespräche klammerte er aus, spürte Ahmed eine tiefe Verbindung zu Nori, die er weder in Worte fassen, noch sich selbst geschweige denn seinen Jungs erklären konnte. Er fühlte sich zu ihr hingezogen wie das Meer zum Mond. Dabei war Nori nicht einmal übermäßig hübsch oder gar ein Hingucker. Ihre kupferroten Haare waren fisselig und eigentlich aschblond, am Kinn war ein ovales Grübchen, das Gesicht leicht asymmetrisch, ihre Nase etwas zu groß und hatte einen zarten Huckel auf Höhe der Augen. Doch nicht irgendwelche Augen! Die dunkelsten, funkelndsten Mandelaugen! Mit ihren sinnlichen Lippen, perfekten Zähnen und dem ovalen Grübchen am Kinn formten sie das allerschönste Lächeln, das sich Ahmed nur vorstellen konnte. Bereits der kleinste Gedanke daran ließ Ahmeds Handflächen klamm werden.

In der Lenz Bar tropfte seit jeher der Schweiß von der Decke. Die Fensterfront dauerbeschlagen, der Putz peekig wie eh und je, dennoch zwängten sich zweihundert Menschen in den rappelvollen Laden, um das Comeback von U3000, dieser blendend gealterten Ü60-Popsternchen, nicht zu verpassen. Nori lehnte hinten an der Wand, Ahmed hatte allein Augen für sie. Und obwohl die lange ergrauten Groupies, die zwischen Ahmed und Nori herumstanden, beharrlich mit ihren Köpfen nickten, als wollten sie mit all ihrer Lebenserfahrung Ahmed Mut zusprechen, brachte er in Noris Gegenwart kein Wort über die Lippen. »Die Schlangen auf dem Boden sind alle ohne Gift / Oh, bitte frag' mich nicht, woher ich weiß, dass das so ist.« U3000 übernahmen das Kommando. Synchroner Gesang. Wie aus Ahmeds Seele: »Du bist so wunderschön / Ich kann es mit meinen Augen sehen / Mädchen, tanz mit mir!« Stattdessen sah er sein Mädchen kurz darauf gehen. Nahm es wortlos zur Kenntnis. Ahmed wartete die letzte Zugabe ab.

Später, unerwartet, erwartete ihn eine noch viel schönere Zugabe: Er entdeckte sie im Offlíhme. Ihre kupferroten Haare waren selbst im dichtesten Disco-Nebel nicht zu übersehen. Wie eine Fee tanzte sie zwischen den Betonpfeilern. Und wenngleich der Klub aus allen Nähten platzte, bildete sich um Nori ein kleiner, nahezu magischer Kreis, als würde sie einen unsichtbaren Riesen-Hula-Hoop-Reifen um sich schwingen. Ahmed drängelte sich zu ihr vor. Der Bass wummerte so laut, dass ein Gespräch sowieso unmöglich war. Könnte er doch nur besser tanzen! Mit ihr tanzen im Beton. Er wollte rufen: »Mädchen, tanz mit mir!« Aber ihre Anmut entmutigte ihn. Behäbig wie ein Orang-Utan kam er sich vor, neben ihr würde er sich zum Affen machen. Plötzlich fasste sie seine Hand, tanzte ihn an. Ihre Hand war verschwitzt, oder war es seine? Unsicher ließ er die Hand wieder los, versuchte seine Hüfte zu bewegen. Fühlte sich unbeholfen, seine Beine schwer wie Beton. Steif beugte er sich rüber zu ihr, spürte ihre warme Haut. Sog ihre vanillige Duftnote ein. Er war ihr jetzt so nah, dass er ihr Ohr hätte küssen können. Wie aus der Kanone geschossen kam seine Frage: »Kommst du mit?« Und genauso unvermittelt hörte Nori auf zu tanzen und folgte ihm zum Treppenhaus.

Und nun saßen sie da. Schüchtern. Am Ihmeplatz 8. Und schwiegen.
»Hat dir das Konzert gefallen?« Ahmeds Gesprächseinstieg war denkbar ungelenk.
»Ja, sehr.«
Die beiden starrten auf die Ihme. Bloß keine falsche Scheu, mahnte sich Ahmed. Nächster Versuch:
»Hast du das Buch schon gelesen?« Ahmed biss sich auf die Unterlippe. Es war Freitagnacht, zwischen vier und fünf Uhr morgens, er war endlich mit Nori allein, Nori vielleicht bald fort, und ihm fiel verdammt nochmal nichts Besseres ein als über die Schule zu reden?
»Ja, das ist echt interessant. Aber wieso müssen wir jetzt auch in Politik Romane lesen?«
Ahmed hatte keine passende Antwort parat. Zum Glück redete Nori direkt weiter:
»Unser Lesepensum ist ja krasser als im Germanistik-Studium. Meinte zumindest meine Ma kürzlich.«
»Hmmm«, überlegte Ahmed, »sagte die Clemens nicht was von Orwells 100. Todestag?«
»Reicht es nicht, dass unsere Schule nach ihm benannt ist?« erwiderte Nori. »Sag mal, hast du dir schon Gedanken über das Projekt gemacht?«
Ahmed zuckte die Schultern. »Woher sollen wir wissen, was in 35 Jahren sein wird? Wir können doch nicht hellsehen.«
»Ach, Achim, dir wird schon was einfallen. Du bist doch sonst so ein helles Köpfchen. Außerdem«, korrigierte Nori ihn, »34 Jahre. 2084.«
»Ich wusste gar nicht, dass du so förmlich bist.«
Nori verstand nicht gleich, was Ahmed meinte.
»Ich mein, äh, wegen Achim«, stotterte Ahmed. »Nenn mich einfach Ahmed.«
»Ach so«, lachte Nori, und Ahmeds Herz überschlug sich fast, »selbst die Clemens nennt dich ja mittlerweile Ahmed. Also, Ahmed...« Sie streckte ihm die Hand entgegen, entzückend ihr strahlendes Lächeln, es schien als hätten sich die beiden eben erst kennengelernt.
Wieder schoss die Kanone aus seinem Herzen: »Kommst du mit hoch?«
Wieder fragte Nori nicht nach: »Na los!«

Der Rest der Nacht war Achims Erinnerung entwichen. War unwiderruflich aus der Cloud gelöscht worden, ohne Zwischenhalt im Papierkorb. Je mehr er sich anstrengte, die Nacht zurückzuholen, desto mehr begann er zu zweifeln, ob Nori und er überhaupt geredet hatten. Ob die beiden tatsächlich geschäkert hatten, und ihre Hände sich berührt. Noris Hand ließ ihn nicht mehr los und verfolgte ihn bis in seine Träume. Nie hatte er solche Mädchenhände angefasst. Nicht zart wie die der meisten Mädchen. Eher rau. Wie Bauarbeiterhände. So empfand Nori sie. Deshalb schleppte sie in ihrem Jutebeutel auch immer andere Handcremes mit. Achim schwor sich, diese Hand nie mehr loszulassen. Sie zu beschützen.

Seit dieser Nacht verfolgte ihn dieser Traum: Achim und Nori flitzten die Wendeltreppe hoch zur Ihmepassage, Hand in Hand vorbei an den dunklen Ateliers, die Türme des Ihme-Zentrums waren vollkommen schwarz, kein Stern war am Himmel zu sehen. Nur die Laternen, die Achim an den verblichenen Globus in Mamas Arbeitszimmer erinnerten, leuchteten matt. So matt, dass er beim Laufen kaum seine Füße sehen konnte. Achim hörte Noris Schritte hinter sich, sie hallten durch die einsame Häuserschlucht, ihre Hand klammerte sich fester an seine, sie nahmen Kurve um Kurve, Kübel um Kübel, Slalom durch die verwinkelte Ladenzeile, wieder eine Treppe runter und über den gottverlassenen Ihmeplatz. Als der Rumpf des Ihme-Zentrums sie verschluckte, glitt das junge Händepaar auseinander. Achims Hände schwitzten. Trieften. Achim versuchte die Hände trocken zu wischen. Griff nach hinten. Die Hand war nicht mehr da. Achim drehte sich um. Nori war weg. Jedesmal erwachte Achim schweißgebadet.

Der Platz neben Ida blieb den ganzen Tag leer. Während Frau Clemens vollbepackt in den Klassenraum hetzte, hievte Achim sein Breakfast2Go auf Serhats Tisch. Immer wenn er es nicht schaffte, sich Zuhause was zu schmieren, Mama machte das schon seit Jahren nicht mehr für ihn, holte er sich was bei der Breakfast-Factory am Schwarzen Bären. Sobald Achim damit in der Klasse aufkreuzte, machte Serge große Augen. Serge war dauerhungrig. Haruki auch, aber der trieb zumindest Sport. Die Jungs, gemeinhin blieb dies allerdings an Achim oder Alessandro hängen, tischten deshalb meist das XXL-Delüxfrühstück auf. Irgendwer schnorrte immer. Der Karton war so groß, dass eine Sahnetorte reingepasst hätte. Achim aber war der Appetit vergangen. Er spürte, dass Nori nicht mehr auftauchen würde. Lustlos tunkte Achim ein Stäbchen Löffelbiskuit in seine Zitronenlimo. Eigentlich zelebrierte er das: das Sprudeln beim Eintauchen, den richtigen Zeitpunkt abzupassen, bevor die Keksspitze ins Glas fiel, um sie dann vollgesaugt im Mund zu versenken. Das schmeckte ein bisschen wie die Zitronen-Erfrischungsstäbchen bei Oma und Opa, nur viel fresher. Er aß die Zuckerstäbchen, um überhaupt was in den Magen zu bekommen. Zur hellen Begeisterung von Hulki, Serhat und Alessandro, die sich gierig über die Blauschimmelkäsestullen, Blaubeerpancakes, den Artischockenbörek und Pflaumensmoothie hermachten. »Alter, Ahmed, was ist denn los mit dir?« schmatzte Haruki. »Du brauchst doch dein Kraftfutter, sonst gibt’s Ärger von Dr. Lee.« Nur Pablo hatte sofort gecheckt was Sache war und nickte unauffällig rüber zu Idas verwaistem Nachbarstuhl. Nori war weg.

 »Habt ihr Fragen zu 1984?« eröffnete Frau Clemens den Unterricht.
Keiner meldete sich.
»Ich finde das Buch doof«, durchbrach Mirli das Schweigen.
»Kannst du auch erklären weshalb?«
»Bei denen gibt’s keine richtige Schokolade. Und die wollen den Orgasmus abschaffen.«
Die Klasse kicherte. Frau Clemens setzte ihren bösen Lehrerinnenblick auf. »Ein bisschen ernsthafter, bitte. Ja, Pavel?«
»Solange es mich gibt, Mädels«, Pablo schaute verführerisch in die Runde, »ist das völlig ausgeschlossen.«
Wieder Klassenkichern.
»Und diese Parteivögel«, schob Serge hinterher, »wollten bis 2050 dieses komische Neusprech einführen. Doppelplusungut
 »Meine Herrschaften, wenn ihr keine ernsthaften Fragen oder Anmerkungen habt«, setzte die Clemens nach und schaute dabei Pablo und Serge streng an, »können wir ja gleich mal einen Test schreiben und anschließend mit dem Projekt anfangen.«
Serge fühlte sich angesprochen und wurde plötzlich kleinlaut: »Dieses Doppeldenk habe ich ehrlich gesagt nicht ganz verstanden.«
»Das ist auch nicht so einfach, Serhat. Kann das jemand erklären? Oder ein Beispiel geben vielleicht?«
»Ist das Aussichtslos nicht ein Doppeldenk?« warf Sonny in den Raum.
»Das musst du näher erläutern«, forderte die Clemens.
»Na als damals das Aussichtslos oben auf dem Ihme-Zentrum aufmachte, bezog sich das auf den desolaten Zustand des Gebäudes, quasi auf den Blick nach unten. Vor der Verschickerung war das ja eine einzige Ruine. Die Aussicht war jedenfalls nicht gemeint. In fast hundert Metern Höhe ist die alles andere als aussichtslos. Das Café so zu benennen, war typische Lindener Selbstironie. Wenn da heute Touristen im Aussichtslos ihren Kaffee trinken, verstehen die den doppeldeutigen Namen überhaupt nicht mehr.«
»Und das ist Doppeldenk?« Frau Clemens' Frage galt als Appell an die ganze Klasse.
»Doppeldenk wäre doch eher«, meldete sich Ida zu Wort, »wenn der Big Brother das Aussichtslos in Aussichtsreich umbenannt und das Ihme-Zentrum als Bausünde nie existiert hätte, weil alle Dokumente, die das belegen, zerstört oder manipuliert wurden.«
»Sehr gut, Ida. Die Vergangenheit besitzt laut der Partei keine objektive Existenz. Deshalb ist die Vergangenheit veränderbar. Gleichzeitig ist die Vergangenheit nie verändert worden. Das ist Doppeldenk in Kurzform.«
»Aber was ist mit der Erinnerung der Menschen?« hakte Serge nach.
Ida aktivierte ihr E-Book und zitierte: »Wie sollte man denn die offenkundigste Tatsache beweisen können, wenn außerhalb der eigenen Erinnerung keine andere Aufzeichnung mehr darüber existierte?«
Achim schreckte hoch. Hatte er wirklich Noris Hand gehalten?

In den nächsten Wochen drehte sich alles um das Projekt. Der Platz neben Ida war noch immer leer. Das einzige Lebenszeichen von Nori war eine Postkarte. So eine aus Papier, wie sie bei Onkel Wolfgang in Reih und Glied über der Küchenkommode angepinnt waren. Nur nicht so speckig und vergilbt. Nori hatte sogar eine gezähnte Briefmarke draufgeklebt: Als Motiv Pippi Langstrumpf in lässiger Gewichtheberpose, den gar nicht Kleinen Onkel in die Höhe stemmend. Vorne Hälsningar från Sverige - Grüße aus Schweden - auf einem goldgelben Kreuz, ringsherum mittelblaue Seenlandschaften, ein kaminrotes Holzhaus und fröhlich winkender Elch mit Zahnlücke. Auf der Rückseite in Krakelschrift: Wir treffen uns dort, wo keine Dunkelheit herrscht. Nori. Ihre Geheimniskrämerei war tagelang das Klassenthema Nummer eins. Keiner wusste ihre Botschaft zu entschlüsseln. Warum war sich Achim nur so sicher, sie würde ausdrücklich ihn damit ansprechen? Auch wenn er keinen blassen Schimmer hatte, was sie ihm bedeuten wollte. Während Achim seinen Gedanken nachhing, erläuterte Frau Clemens noch einmal das Projekt: »1984 ist ein sehr düsteres, dystopisches Buch. Für unser Projekt 2084 müsst ihr es nicht wie George Orwell machen. Wir suchen positive Utopien, Zielvorstellungen, die dem Stadtteil und der Stadtpolitik eine Richtung geben können. Neue Ideen, Wünsche, kleine Stücke eines lebenswerten Alltags der Zukunft. Sucht euch ein Thema aus oder schreibt darüber, was euch umtreibt, was euch im Stadtteil wichtig ist.«
»Ich glaube nicht, dass sich viel ändern wird«, bemerkte Achim gleichgültig.
»Findest du das nicht ein bisschen naiv?« spöttelte Sonny.
Die Retourkutsche folgte prompt. »Wieso, Orwell schreibt das doch im Prinzip auch. Moment...« Achim kramte sein E-Book hervor und scrollte auf Seite 244. »Daraufhin entstand eine Schule von Denkern, die die Geschichte als einen zyklischen Prozeß interpretierten und damit zeigen wollten, daß Ungleichheit das unabänderliche Gesetz des menschlichen Lebens sei.«
»Einen Schwarzseher wie dich hätten die doch längst vaporisiert«, mischte sich Hulki ein. Es klingelte zur Pause. Alle sprangen auf. »Ein Sekündchen noch«, rief Frau Clemens. »Denkt bei dem Projekt daran: Die Welt ist nie so gut, wie es sich die Optimisten wünschen, aber auch nicht so schlecht, wie es die Pessimisten sehen. Ich möchte, dass ihr Optimisten seid.«

Achim versuchte optimistisch zu sein. Hoffte Nori bald wiederzusehen. Die Sommerferien klopften an die Tür. Und sonst musste er eben auf sie warten. Was sollte ihm bloß diese mysteriöse Postkarte mitteilen? Wir treffen uns dort, wo keine Dunkelheit herrscht. Nori. Gedankenverloren lief Achim durch Linden-Nord. Seine Jungs kamen zuletzt ein wenig zu kurz. »Du mutierst langsam zur Einmannminderheit«, scherzte Pablo kürzlich. Es war die Sorte Scherz, die mindestens ein Fünkchen Wahrheit enthielt. Beim Ravers, gegenüber vom schmucken Hans-A-Platz, war das Schaufenster voll mit den neuesten Neonpullis. Achim hätte am liebsten einen in Neonschwarz gekauft, das entsprach so ziemlich seiner Gemütslage. An die Außenwand der neuen Printer's Paradise-Filiale am Kötnerholzweg hatte jemand »Sorry about you're wall« gesprüht. Ist schon hart eine Wand zu sein, dachte sich Achim und konnte zum ersten Mal an diesem Tag schmunzeln. An der Ecke Fössestraße teilte sich ein lavendelblauer Bucklebus in drei Richtungen. Wie reibungslos das Modellprojekt Autofreier Stadtteil 2050 ablief, erstaunte ihn immer wieder. Obwohl autofrei nicht ganz stimmte, autoreduziert traf es eher. Am Lindener Hafen stand eines der großen Pendler-Parkhäuser, von dort fuhren im Minutentakt + 24/7 die solarbetriebenen Shuttles Richtung Linden-Mitte und -Nord. Die wenigen Autos mit Kurzzeitberechtigung durften nicht schneller als Schritttempo fahren, und konnten es auch nicht, denn die Straßen Lindens waren längst in Beschlag genommen worden von den unmotorisierten Verkehrsgenossen. Wie eine verlassene Fabrik, die von der Natur zurückerobert wurde und mit wilden Kräutern und Gräsern zuwucherte, tummelten sich Drahtesel, Rollbretter und Tretroller aller Art auf dem Asphalt, mittendrin einige schneidige Rollis, Rollatoren und Kinderwagen.

In der Rampenstraße, kurz vorm Küchengartenplatz, der seinem Namen wieder gerecht wurde, fiel Achims Blick auf eine digitale Litfaßsäule. Der Teleschirm bestand aus lauter Nullen und Einsen, die ständig ihre Farben wechselten, bevor sie eins wurden mit dem Hintergrund, und sich dieser komplett verfinsterte: »Dort wo keine Dunkelheit herrscht«, war auf einmal zu lesen. Tagträumte er etwa? Darunter, in kleineren Buchstaben, las er: »Eine algorithmische Lichtinstallation«. Bevor er einen klaren Gedanken fassen konnte, lösten sich die Buchstaben in Nullen und Einsen auf, um sich wieder zu neuen Buchstaben zusammenzusetzen: »TONIGHT, Lex Ex Machina, Ihmeplatz 4«. Achim schaute zum Campus-Hochhaus. Spähte um sich. Er war allein. Und mit seinem Latein am Ende. War das eben real? Dort wo keine Dunkelheit herrscht. Hatte er das tatsächlich gelesen? Was hatte Nori damit zu tun? Wie passte das alles zusammen? Achim sammelte sich. Von Lex Ex Machina hatte er schon gehört. Das war ein Kollektiv schräger Kunstaktivisten, die unter ständig wechselnden Projektnamen in Erscheinung traten. Zuletzt hatten Lex Ex Machina Quelltextlesungen von Suchmaschinen und Datingplattformen als politisches Spektakel inszeniert. Wenige Sekunden später blinkte es erneut auf: »Dort wo keine Dunkelheit herrscht - Eine algorithmische Lichtinstallation«. Er musste da hin. Sofort.

Auf dem Ihmeplatz versammelten sich bereits die ersten Besucher. Überall waren Scheinwerfer und Laser installiert und projizierten lauter hüpfelnde Nullen und Einsen, die zwischen Campus- und Spinnerei-Hochhaus munter in der Luft tanzten und weiter oben in der Abenddämmerung wieder verschwanden. Wie aus einem zeitverkehrten Strudel wurden 0, 1, 0, 1, 0, 1, 0, 1 vertikal in die Häuserschlucht gespült. Erst als es dunkler wurde, war zu erkennen, dass die Nullen und Einsen beständig ihre Farben veränderten. Und es war zu erkennen, wohin sie wanderten: Auf den Türmen links und rechts vom Ihmeplatz 4 sammelten sich die Zahlen und bildeten verschiedene, ständig mutierende Länderflaggen. Die Projektion links war akkurat und rechtwinklig, den echten Fahnen täuschend ähnlich, rechts hingegen war sie unproportioniert und verwaschen. Dort wurden aus Strichen Wellen, aus Sternen Blätter, aus Kronen Kappen, aus Sonnen Sombreros, aus Halbmonden Bananen, aus Hammer und Sichel Messer und Gabel.

Das Lichtspektakel in dieser tiefblauen, sternenklaren Nacht lockte immer mehr Leute an. Aus allen Richtungen eilten die Menschenmassen herbei: Von der Limmer- und Deisterstraße, vom Lindener Markt und Berg, aus der Stadt und selbst vom Land. Je mehr Menschen sich auf den Platz drängten, desto mehr Nullen und Einsen erfüllten den Nachthimmel. Die Flagge Schwedens erschien als eine der letzten. Rechts formte sich eine goldgelbe Lanze. Und bohrte sich in Achims Herz. Wo steckte Nori bloß? War sie noch in Schweden? Oder irgendwo in der Nähe? Konnte sie ihm kein Zeichen geben? Das Ihme-Zentrum war mittlerweile erfüllt von Farben, nur weit und breit kein Kupferrot. Achim schaute in der Menge umher, alle schauten gebannt nach oben. Hilflos lief Achim von links nach rechts und wieder zurück. Nichts. Allmählich verschmolzen die unzähligen Nullen und Einsen miteinander, wurden zu einem schwarzen Etwas, das nach und nach jede Farbnuance aus den Türmen verdrängte, und erst den Turm rechts, dann links erfinstern ließ.

Wir treffen uns dort, wo keine Dunkelheit herrscht. Das hatte Nori geschrieben. Nur wo sollte das sein? Wie konnte er sie finden? Während das Publikum zu seinen Wohnungen und den Ausgängen des Ihme-Zentrums strömte, begab sich Achim zum eben noch illuminierten Campus-Hochhaus. Intuitiv nahm er die Treppe. Wie ein hängengebliebener Schrittzähler zählte Achim Schritt für Schritt. 0, 1, 0, 1, rechter Fuß, linker Fuß, rechter Fuß, linker Fuß. Erster Stock. 0, 1, 0, 1, rechter Fuß, linker Fuß, rechter Fuß, linker Fuß. Zweiter Stock. 0, 1, rechts, links. 0, 1, rechts, links. Etage um Etage, 0, 1, der Trance schon nahe, rechts, links, bis nach oben. Aussichtslos. Und das war es. Buchstäblich. Eine frische Brise ließ ihn erschaudern. Zwei Minuten hasste er die Welt. Er schaute in die Tiefe. Klammerte sich ans Geländer. Der Ihmeplatz glich einem Ameisenhaufen, die dunklen Punkte bewegten sich wie ferngesteuert, nach einem System, das er nicht durchschaute. 0, 1. Sein Blick wanderte zur Ihme. Links, rechts. Von der Ohnesorg-Brücke nach Süden. Zum Stadion und Schützenplatz. Das Riesenrad drehte und drehte und drehte sich. Immerzu grell blinkend. Der Hai-Tower-Hai zwinkerte unermüdlich herüber. Die drei warmen Brüder grüßten nicht zurück. Achim überfiel eine tiefe Müdigkeit. Versank immer tiefer in dem Wirrwarr seiner Gedanken. 0, 1, rechts, links. Von hinten vernahm er eine Stimme. Wie der einer Nymphe. Sie sang eine liebliche Melodie: »Just wait until it's over / Just wait until it's through«. Seine Hand löste sich vom Geländer. Sie schwitzte gar nicht. Da war noch eine andere Hand. Rau und warm. Zart erfasste ihn ein sommerlicher Luftzug, verführerischer Vanilleduft wehte herbei. Alles war wie ein Traum.

Von Stefan Thoben

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